26. Oktober 2014

Das Schöne an WGs ist, dass man alles ganz nah miterlebt. In meinem Fall waren das gleich zwei Mal die Vorbereitungen zu einer Hochzeit. Sämtliche Katastrophen (und ich meine wirklich sämtliche Katastrophen) eingeschlossen, versteht sich. Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass die folgende Geschichte im Kern wirklich so passiert ist. Echt jetzt! Sonst glaubt mir das ja keiner, ich glaub’s ja selbst bis heute kaum.

Ich wohnte damals in einer Kleinstadt im Norden dieser Republik. Als ich eines Abends nach Hause kam, sah ich aus dem Küchenfenster wenige Straßen weiter dichten schwarzen Rauch aufsteigen. Dann fuhr ein Löschzug vorbei. Und dann noch einer. Und noch einer.

Und dann kam Maja nach Hause.

Maja war eine jener Mitbewohnerinnen, die in wenigen Wochen heiraten würde. Ich sagte: „Du, in der Altstadt brennt’s offenbar ziemlich heftig, schau mal aus dem Küchenfenster.“ Darauf sie (entschlossenen Schrittes in die Küche laufend und aus dem Fenster blickend): „Ich… oh… mein… neeein… also bestimmt ist das jetzt total doof von mir, aber… also… mein Brautkleid ist doch in der Änderungsschneiderei… und äh… also… ich muss nochmal weg.“ Ich: „Weg? Wo willst du denn hin? Wir wollten doch…“

Da rauschte sie schon in der Jacke an mir vorbei. Ich: „Jetzt warte doch!“ Auf dem Weg in die Altstadt wurde mir klar: Die Änderungsschneiderei lag in der Richtung, in der es brannte. Ich sagte ihr, dass das schon ziemlich unwahrscheinlich sei, dass ausgerechnet die Schneiderei Feuer gefangen hätte, aber Maja eilte nur wortlos in Richtung Rauch. Eine Querstraße, noch eine Querstraße, schon bogen wir um die Ecke. Das ganze Haus brannte lichterloh, dutzende Feuerwehrleute hasteten zwischen den Löschwagen, Sankas und Schläuchen hin und her.

Der Ohnmacht nahe

Aus der Änderungsschneiderei schlugen meterhohe Flammen. Maja tappte wie paralysiert immer näher an das Gebäude, drängelte sich durch die neugierige Menschenmenge, die das Inferno beobachtete, überwand eine Absperrung und ignorierte mein Rufen, dass es ihrem Verlobten bestimmt lieber sei, sie unversehrt und nackt als schwerverletzt und in Mullbinden gewickelt zu ehelichen. Endlich stoppte ein Sanitäter meine schockwandelnde Mitbewohnerin. Ich sah nur, dass er sie ansprach, sie ihren Kopf wendete, ihn verständnislos anblickte und dann wie in einem Hollywoodstreifen halb-ohnmächtig in seine Arme sank.

Ich kämpfte mich durch die Schaulustigen bis zum Absperrband vor und schaffte es, zu ihr zu kommen. Da saß sie, ein tränenüberströmtes Häufchen Elend, in einem Rettungswagen, gehüllt in eine dieser schicken gold-silbernen Foliendecken, und schluchzte blass und herzzerreißend: „Das kann doch nicht… (Schluchzen)… das ist sooooo (Schluchzen)… wie soll ich denn jetzt (Schniefen)… wir müssen den Termin ver(Schluchzen)…“ Der Sanitäter blickte mich betroffen an, als könne ich eine Lösung herbeizaubern, und drückte Maja einen Plastikbecher mit Wasser in die Hand. „Trinken Sie mal was, das beruhigt die Nerven.“ Maja trank, schluchzte, schniefte und trank.

Einsatz unter Lebensgefahr

Einer der Feuerwehrmänner kam dazu, sagte etwas von Leuten mit Rauchvergiftungen, die schon unterwegs in die Klinik seien, und woher denn diese Dame jetzt komme. Die beiden Helfer entfernten sich ein Stückchen und besprachen sich – offenbar wollten sie nicht, dass wir mithörten. Dann kam der Feuerwehrmann zu uns, ging vor Maja in die Hocke, so dass er auf gleicher Augenhöhe war, nahm ihre Hände in seine und ich fühlte mich fatal an einen Heiratsantrag erinnert, fand aber, dass das in dieser unwirklichen Szenerie irgendwie doch fehlplatziert wäre und schob meine überschäumende Fantasie beiseite. Jedenfalls sagte der Mann (und ich höre seine Stimme bis heute, es war eine tiefe, männliche Stimme, sanft und doch bestimmt): „Sind Sie die Frau, der das Brautkleid gehört?“

Maja schaute ihn mit großen Augen an und öffnete den Mund zu einem zögerlichen: „Ja-a-a-schluchz-schnief-a-a-a-a-a.“

„Also, die Schneiderin hat ja den Notruf gewählt, und als wir ankamen…“

„…als wir ankamen, rannte sie uns entgegen und sagte: In meinem Laden ist ein Brautkleid! Sie müssen das Brautkleid retten!“

Schnihiiiiiiiiiief, schluhuhuhuuuuuchz!

„Wir sagten ihr, gute Frau, in das Haus kann keiner mehr reingehen! – Doch! Sagte sie. Sie müssen da rein! Das Brautkleid! Sie müssen das Brautkleid retten!“

Schnihiihihiiiiiiiiiiiiiiiief, schluhuhuuuuuuuuuuuuchz!!!

„Naja, und es brannte ja noch nicht unten in dem Laden, sondern nur in den oberen Etagen und…“

Schnihiiiiiiiiiief, schluhuhuhuuuuuchz!

„Jetzt hören Sie doch endlich auf zu heulen! Und hören Sie mir zu!“

Schluchz-schluck-schnief.

„Ein Kollege ist dann doch rein in den Laden, in den Rauch. Und er hat es rausgeholt. Hören Sie? Er hat Ihr Brautkleid da rausgeholt!“

Schweigen. Um uns herum: Tatüüüü, tatataaaa, Rufe, Befehle, Funkknarzen, WalkieTakieStimmen, hektisches Gewusel.

Der Feuerwehrmann reichte Maja ein Taschentuch. „Geht’s besser jetzt?“

Schnief. „Ja, schon. Danke. Und wo ist mein…?“

„Das klären wir morgen. Es ist jedenfalls sicher, darauf haben Sie mein Wort. Und jetzt beruhigen Sie sich wieder!“

Sagte es, und ging.

Als wäre Feuer nicht genug…

Zurück blieb eine rotäugige, blasse, zitternde Maja und ein Sanitäter, der sie bat, sich hinzulegen, er würde sie jetzt sicherheitshalber in die Klinik fahren. Im Sanka. Das brachte Majas Sinne augenblicklich zurück. „Ach na, so ein Quatsch, mir ist nur ein bisschen schwindelig geworden, deswegen muss ich doch nicht ins Krankenhaus!“

„Doch, müssen Sie. Sie sind mir in die Arme gekippt. Wenn ich Sie jetzt einfach gehen lasse und Sie nachher doch noch kollabieren, bin ich dran.“

„Aber ich bin ja nicht alleine. Meine Freundin hier ist doch auch da.“

Ich nickte heftig. „Ich pass auf sie auf, Ehrenwort. Wir wohnen zusammen.“

Es bedurfte noch ein wenig Überzeugungsarbeit, dann aber ließ der Sanitäter uns ziehen.

Eine Woche später hing das Kleid an einer Tür in unserer Wohnung, geändert, passend, und mit dem Odeur einer von einer Horde Stinktiere überfallenen Dönerbude.

Zwei Wochen später war das Kleid soweit ausgedünstet, dass es in den nächsten Tagen in die Reinigung sollte.

Zwei Wochen und einen Tag später erhielt ich einen Anruf von unserem Hausmeister, dass man unsere Wohnungstür aufbrechen müsse, weil es in den Wohnungen darunter von der Decke tropfe und wir wohl einen ziemlich großen Wasserschaden hätten. Ich brauste direkt heimwärts und kam gerade noch rechtzeitig an, um die Zerstörung unseres Schlosses zu verhindern und aufzusperren. Das Wasser stand in der gesamten Wohnung rund drei Zentimeter hoch. Ich rief Maja an und berichtete ihr von dem Drama. Maja kreischte in marginaler Hysterie: „Hängt das Brautkleid hoch genug?!!!“

Die Besitzerin der Änderungsschneiderei, die die Feuerwehrleute um die Rettung des Brautkleids angefleht hatte, hat bei dem Brand ihren gesamten Besitz verloren. Das Haus gehörte ihr komplett. Es musste abgerissen werden.

Alle Geschichten dieser Serie beruhen im Kern auf wahren Begebenheiten. Namen, Beschreibungen von Aussehen und anderen Identifikations-Merkmalen sind dagegen rein fiktiv.

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